Abbildung 3. (a) mehrdeutiger Necker-Würfel
und (b) disambiguierte Würfel-Varianten.
Bei längerer Betrachtung des mehrdeutigen Necker-Würfels (Abb.
3a, Necker 1832), einer der prominentesten sog. Kippfiguren, wird unsere
Wahrnehmung instabil und wechselt spontan zwischen zwei
Interpretationsmöglichkeiten (Abb. 3b) hin und her. Fügt man
dem Bild des Necker-Würfels Tiefeninformation hinzu, wird der
veränderte Würfel eindeutig und unsere Wahrnehmung stabil. In
einer Reihe von EEG-Studien mit verschiedenen mehrdeutigen Stimuli und
disambiguierten Varianten suchten wir nach Unterschieden zwischen der
instabilen neuronalen Repräsentation mehrdeutiger und der stabilen
Repräsentation eindeutiger visueller Information (Kornmeier & Bach
2009, Kornmeier et al. 2016, Joos et al. 2020a and 2020b). Zu unserer
Überraschung fanden wir über grundverschiedene Stimulus-Kategorien
hinweg ein sehr klares EEG-Muster mit niedrigen Amplituden zweier
ereigniskorrelierter Potenziale („EKPs“, P200 und P400) bei mehrdeutigen
Stimuli und hohen Amplituden bei eindeutigen Stimulus-Varianten (Abb. 4,
Spalten 1 bis 3).
Mehrdeutigkeit scheint hier aber nicht der entscheidende Faktor zu sein,
denn wir fanden mittlerweile sehr ähnliche Ergebnisse, wenn wir die
Sichtbarkeit visueller Stimuli manipulierten, z.B. die
Mundkrümmung von fröhlichen und traurigen Smileys (Abb. 4,
rechte Spalte), oder den Linienverlauf von Buchstaben (hier ohne Abbildung).
Abbildung 4. (a) von links nach rechts: Necker-Gitter (Geometrie),
schematische Darstellung des sog. Motion-Quartett (Bewegung, Von
Schiller 1933; online Animation),
Borings Alte/Junge Frau (Gestalt, Boring 1930), Smiley Stimuli.
Die Stimuli in schwarzen
Rahmen stellen mehrdeutige, in roten Rahmen disambiguierte
Stimulus-Varianten dar. (b) Grand Mean EKP-Kurven (mittlere Kurve) ± SEM
(obere und untere Kurven) von EEG-Elektrode Cz jeweils evoziert durch die
mehrdeutigen (rote Kurven) und eindeutigen (schwarze Kurven)
Stimulus-Varianten. Die disambiguierten Stimulus-Varianten evozieren
deutlich erkennbar höhere EKP-Amplituden. (c) VoltageMaps für
P200 und P400 zeigen in Falschfarben die Verteilung der
EKP-Aktivität zu einem bestimmten Zeitpunkt (jeweils links 200 ms
und rechts 400 ms nach Stimulus onset). Rote Farbe bedeutet hohe
Amplituden, blaue Farbe niedrige Amplituden. Bemerkenswert ist die
Vergleichbarkeit der EKP-Ergebnisse über sehr verschiedene
Stimulus-Kategorien (Spalten) hinweg. (d) Scatterplot mit den
individuellen Amplitudenwerten der einzelnen Versuchspersonen
(Kreise und Sternchen repräsentieren P200- und P400-Amplituden).
Die Amplitudenunterschiede zeigen sich auch auf individuellem
Niveau.
In Kooperation mit der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des
Universitätsklinikums Freiburg, sowie der Psychiatrie Strasbourg
untersuchen wir in diesem Zusammenhang u.a. Patienten mit
psychiatrischen Erkrankungen, die zum Teil pathologisch unter instabilen
Wahrnehmungs- und/oder mentalen Zuständen leiden, um Modelle und daraus
resultierende Hypothesen zu testen und gleichzeitig diese Erkrankungen
besser zu verstehen.
Referenzen
Boring EG (1930). A new ambiguous figure.
Am J Psychol. 42, 444–445.
Joos E, Giersch A, Hecker L, Schipp J, Tebartz van Elst L &
Kornmeier J (2020a). Large EEG amplitude effects are
highly similar across Necker cube, smiley, and abstract
stimuli.
PLoS ONE 15(5): e0232928.
Joos E, Giersch A, Bhatia K, Heinrich SP, Tebartz van Elst L,
Kornmeier J (2020b) Using the perceptual past to predict the
perceptual future influences the perceived present – a novel ERP
paradigm PLoS
ONE 15(9): e0237663.
Kornmeier J & Bach M (2009). Object perception: when our brain
is impressed but we do not notice it.
Journal of Vision, 9(1),7 1-10.
Kornmeier J, Wörner R & Bach M (2016). Can I trust in what I
see? – EEG Evidencefor a Cognitive Evaluation
of Perceptual Constructs.
Psychophysiology, 53, 1507–1523.
Necker LA (1832). Observations on some remarkable optical
phaenomena seen in Switzer-land; and on an optical phaenomenon
which occurs on viewing a figure of a crystal or geo-metrical
solid.
The London and Edinburgh Philosophical Magazine and
Journal of Science, 1(5), 329–337.
Schiller PV (1933). Stroboskopische Alternativversuche.
Psychologische Forschung, 17, 179–214.