Beratungspsychologischer Forschungsbereich

 

Koordinator: Dr. phil. Dipl.-Psych. Wolfgang Fach

Dieser Forschungsbereich ist in der Beratung von Menschen mit Außergewöhnlichen Erfahrungen (AgE) verankert. Das umfangreiche und fortlaufend in der Beratungsarbeit mit einem eigens entwickelten Dokumentationssystem erhobene Datenmaterial ist die Grundlage phänomenologischer Studien und der Untersuchung systematischer Beziehungen zwischen AgE-Formenkreisen und soziodemografischen und biografischen Merkmalen von Ratsuchenden.

 

Studien zur Phänomenologie Außergewöhnlicher Erfahrungen

Der am IGPP entwickelte Fragebogen zur Phänomenologie Außergewöhnlicher Erfahrungen wird seit 2011 in revidierter Fassung (PAgE-R) standardmäßig in der Beratung eingesetzt, um die AgE der Ratsuchenden mittels Selbsteinschätzung zu erfassen. Der PAgE-R basiert auf einer Theorie der mentalen Repräsentation (Metzinger, 1999). Demnach bildet der menschliche Organismus mittels seines mentalen Systems ein phänomenales Realitätsmodell aus, das aus zwei fundamentalen Submodellen bzw. Metarepräsentationen besteht, einem Selbstmodell und einem Weltmodell. Die beiden Modelle sind separiert, korrelieren aber miteinander. Der Mensch entwickelt kognitive Realitätsmodelle (Weltbilder), die durch die strukturelle Dualität von Selbst und Welt bestimmt sind, und von denen die Interpretation einer Erfahrung als AgE abhängt. Aus der Struktur des Realitätsmodells lassen sich vier Grundklassen von Phänomenen ableiten, die AgE konstituieren:

  1. Externale Phänomene bzw. Abweichungen im Weltmodell: optische, akustische, taktile, olfaktorische und kinetische Phänomene, Spüren einer unsichtbaren Anwesenheit, unerklärliche Veränderungen physikalischer Objekte etc.
  2. Internale Phänomene bzw. Abweichungen im Selbstmodell: somatische Phänomene, unerklärliche Stimmungen und Gefühle, ichfremde Vorstellungen, Gedankeneingebungen, Beeinflussungserleben, Hören von Stimmen etc.
  3. Koinzidenzphänomene bzw. abweichende psychophysische Korrelationen: nicht auf sinnlicher Wahrnehmung (Telepathie, Hellsehen, Präkognition etc.) oder Motorik (Psychokinese) beruhende sinnvolle Korrespondenzen zwischen Selbst- und Weltmodell.
  4. Dissoziationsphänomene bzw. abweichende psychophysische Separationen: Automatismen, mediumistische Zustände, Schlafparalysen, außerkörperliche Erfahrungen etc. als Verlust des vertrauten Zusammenhangs von Selbst- und Weltmodell.

Mit dem PAgE-R wird das Auftreten von Phänomenen der vier Grundklassen in der bisherigen Lebensspanne anhand von je 8 Items und einer fünfstufigen Häufigkeitsskala erfasst. Es wurde eine Vergleichsstudie mit sechs Stichproben durchgeführt: IGPP-Ratsuchende mit AgE (n = 272), eine Stichprobe der Schweizer Normalbevölkerung (n = 1351), Studierende (n = 343), Personen, die über Nahtoderfahrungen berichten (n = 176), Meditierende (n = 59) und US-Amerikaner (n = 148), die mit einer englischen Übersetzung des PAgE-R befragt wurden (Atmanspacher & Fach, 2019).

Abbildung 1 zeigt die Mittelwerte der sechs Stichproben in einem Netzdiagramm. Die Profile der Schweizer Bevölkerung und der deutschen Studierenden sind nahezu identisch, aber bei Ratsuchenden mit AgE sind sie etwa doppelt so häufig. Dazwischen liegt die USA-Stichprobe. Am häufigsten traten AgE bei den Nahtoderfahrenen und den Meditierenden auf. AgE scheinen in unterschiedlichen Populationen in unterschiedlicher Häufigkeit, aber hinsichtlich der vier Phänomengrundklassen in vergleichbarer Proportionalität aufzutreten. Die USA-Studie liefert erste Hinweise, dass die Ergebnisse des deutschsprachigen Raums auch auf außereuropäische Länder übertragbar sein könnten. Insgesamt legen die Befunde nahe, dass der mentalen Repräsentation von AgE universelle Ordnungsfaktoren zugrunde liegen.

 

Abb. 1: Vergleich der Skalenmittelwerte von sechs PAgE-R-Stichproben

Abb. 1: Vergleich der Skalenmittelwerte von sechs PAgE-R-Stichproben

 

Anhand von Faktoren-, Cluster-, Item und Skalenanalysen wurde der PAgE-R an den vier deutschsprachigen Stichproben außer den Meditierenden validiert. Nach einer Reduktion des Itempools von 32 auf 20 Variablen durch Selektion schwacher und problematischer Items zeigten Hauptachsenfaktorenanalysen bei allen Stichproben ausgehend von einem Generalfaktor eine systematische Ausdifferenzierung in die vier Phänomengrundklassen. Insgesamt erwies sich die die Extraktion von vier Faktoren als die robusteste und am besten zu verallgemeinernde Lösung. Ausgehend von den Faktoren wurden Skalen mit je 5 Items für Externalität, Internalität, Koinzidenz und Dissoziation konstruiert. Außerdem werden Kontextbedingungen der AgE und soziodemographische Angaben erfasst. Mit nur einer Ausnahme in der Studentenstichprobe liegt die Reliabilität nach Cronbachs-α für alle Subskalen zwischen .72 und .85. Die interne Konsistenz der Globalskala mit 20 Items erreicht α von .86 bis .92.

Als Ergebnis der Validierungsstudie wurden nicht nur die Skalen modifiziert, sondern weitere Änderungen vorgenommen. Die Phänomengrundklassen werden nicht mehr in vier Blöcken, sondern in randomisierter Reihenfolge präsentiert, um Reihenfolgeeffekte zu vermeiden. Die Antwortskala wurde modifiziert, indem die Skalenmitte in Richtung des Medians verschoben wurde. Statt nie, selten, manchmal, häufig und sehr häufig lautet die Abstufung nun nie, fast nie, selten, gelegentlich und häufig. Die Validität und Reliabilität des neuen PAgE-II wurde noch einmal an zwei Stichproben überprüft: einer zweiten Stichprobe mit AgE-Ratsuchenden (n = 193) des IGPP und der Parapsychologischen Beratungsstelle in Freiburg (W. v. Lucadou), die im Rahmen einer Masterarbeit (Zwickel, 2019) erhoben wurde, sowie einer zweiten Studierendenstichprobe (n = 450) ebenfalls erhoben in einer Masterarbeit (Krischke, 2018), sowie in einer laufenden Multifragebogenstudie von Tremmel & Ott. Abbildung 2 zeigt die PAgE-II Stichproben im Vergleich mit den entsprechenden vorherigen PAgE-R-Stichproben.

Das AgE-Konstrukt konnte jeweils mit einer Extraktion von drei Faktoren ohne einen Dissoziationsfaktor repliziert werden. Die Dissoziations-Items laden in der AgE-Stichprobe primär auf den internalen Faktor und in der Studierendenstichprobe auf dem internalen und externalen Faktor. Bei der AgE-Stichprobe ist die 3-Faktorenlösung durch den kleineren Stichprobenumfang bedingt. Im Hinblick auf die Studierenden deuten verschiedene Analysen darauf hin, dass die Bildung eines stabilen Dissoziationsfaktors bei ihnen an einem Alterseffekt scheitert. Es scheint, dass junge Erwachsene noch keinen eigenständigen Dissoziationsfaktor ausprägen. Die Reliabilität sich bei den Ratsuchenden global von α = .87 auf .89 erhöht und bei den Studierenden minimal von α = .87 auf .86 verringert. Auch die niedrigsten Reliabilitäten für die Dissoziations-Skala sind mit α = .79 bei den Ratsuchenden und .67 bei den Studierenden sehr zufriedenstellend, wenn man bedenkt, dass sie nur aus fünf Items besteht. Die beabsichtigte Verbesserung durch das Antwortformat wurde erreicht. Bei allen anderen Subskalen stiegen in beiden Stichproben die Mittelwerte und die Skalenbreite wurde besser ausgenutzt.

Für die nahe Zukunft sind internationale Vergleichsstudien geplant. Bislang wurden Übersetzungen des PAgE-II in Englisch, Französisch und Italienisch fertig gestellt, mit denen bereits Daten erhoben werden und die sich in der Erprobungsphase befinden. Eine Übersetzung in Portugiesisch für den Einsatz in einer Studie in Brasilien ist in Vorbereitung.

 

Abb. 2: Vergleich der Skalenmittelwerte der PAgE-R- und PAgE-II-Stichproben. Für die Werte der PAgE-R-Stichproben (gestrichelte Linien) gilt die Antwortskala in Abb. 1

Abb. 2: Vergleich der Skalenmittelwerte der PAgE-R- und PAgE-II-Stichproben. Für die Werte der PAgE-R-Stichproben (gestrichelte Linien) gilt die Antwortskala in Abb. 1

 

Literatur

Atmanspacher, H. & Fach, W. (2019). Exceptional experiences of stable and unstable mental states, understood from a dual-aspect point of view. Philosophies 4 (1), 1–21. https://doi.org/10.3390/philosophies4010007.

Fach, W., Atmanspacher, H., Landolt, K., Wyss, T. A. & Rössler, W. (2013). A comparative study of exceptional experiences of clients seeking advice and of subjects in an ordinary population. Frontiers in Psychology (4), 1–10. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2013.00065.

Krischke, R. (2018). Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitseigenschaften und Außergewöhnlichen Erfahrungen. Unveröffentlichte Masterarbeit. Universität Bielefeld.

Landolt, K., Wittwer, A., Wyss, T. A., Unterrassner, L., Fach, W., Krummenacher, P., Brugger, P., Haker, H., Kawohl, W., Schubiger, P. A., Folkers, G. & Rössler, W. (2014). Help-seeking in people with exceptional experiences: Results from a general population sample. Frontiers in Public Health (2), 1–9. https://doi.org/10.3389/fpubh.2014.00051.

Metzinger, T. (1999). Subjekt und Selbstmodell. Die Perspektivität phänomenalen Bewusstseins vor dem Hintergrund einer naturalistischen Theorie mentaler Repräsentation (2. Aufl.). Paderborn: Mentis.

Zwickel, A. (2019). Außergewöhnliche Erfahrung und Sinnerfahrung. Exploration psychodynamischer Korrelate. Unveröffentlichte Masterarbeit. Universität Innsbruck.

 

Kooperationen

PD Dr. Harald Atmanspacher, Collegium Helveticum, Zürich, Schweiz.
Prof. em. Dr. Franz Caspar, Universität Bern, Schweiz.
Dr. Renaud Evrard, Université de Lorraine (Nancy) & Centre d’Information, de Recherche et de Consultation sur les Expériences Exceptionnelles, Frankreich.
PD Dr. Jürgen Kornmeier, IGPP, Freiburg.
Prof. Dr. Fatima Regina Machado, Universidade de São Paulo, Brasilien.
Dr. Ulrich Ott, Bender Institute of Neuroimaging, Justus-Liebig-Universität Gießen.
Prof. Dr. Thomas Rabeyron, Université de Lorraine (Nancy) & Centre d’Information, de Recherche et de Consultation sur les Expériences Exceptionnelles, Frankreich.
Prof. Dr. Christine Simmonds-Moore, University of West Georgia, USA.
Prof. Chantal Martin Soelch, Université de Fribourg, Schweiz.
M.Sc. Dahlila Spagnuolo, Université de Fribourg, Schweiz.
Dipl.-Psych. Michael Tremmel, Bender Institute of Neuroimaging, Justus-Liebig-Universität Gießen.
Dr. Patricio Tressoldi, Università di Padova, Italien.
PD Dr. Marc Wittmann, IGPP, Freiburg.