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Satanismus und satanisch-ritueller Missbrauch in Deutschland
Satanismus hat sich als brisantes Thema in der gesellschaftspolitischen Diskussion um so
genannte Sekten und neureligiöse Bewegungen etabliert. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt
die immer wieder geäußerte Vermutung, dass in solchen Gruppierungen regelmäßig ritueller
(Kindes-)Missbrauch und rituelle Tötungen stattfänden. Obwohl jedoch so gut wie keine
objektiven Beweise für die Realität solcher Taten aufgefunden werden konnten und das reale
Ausmaß des Phänomens umstritten ist, verbreitete sich diese Vorstellung (nicht nur) hierzulande
und führte als Gefahrendiskurs zu einer nachhaltigen Beunruhigung der Öffentlichkeit und zu
wiederholten Forderungen nach speziellen staatlichen Repressionsmaßnahmen.
Im Rahmen einer wissenssoziologischen Diskursanalyse rekonstruierte das Forschungsprojekt den
aktuellen Diskurs über Satanismus und satanisch-rituellen Missbrauch in Deutschland. Im Fokus
der Untersuchung standen vier Dimensionen: (1) Themenkarriere, (2) inhaltliche Strukturmerkmale
(Interpretationsrepertoire und Deutungsmuster), (3) Diskursakteure sowie (4) die Rolle von
Medienöffentlichkeit und diskursiven Strategien. Analysiert wurden vielfältige Dokumente aus heterogenen
Öffentlichkeitsarenen: Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, TV-Dokumentationen und Spielfilme,
wissenschaftliche Aufsätze, Informationsbroschüren, Artikel aus Fach- und Sachbüchern, parlamentarische
Berichte, Dokumentationen von Fachtagungen, Onlineauftritte und Betroffenenberichte.
Zentrale Befunde: Zunächst wurde die Themenkarriere und ideengeschichtliche Einbettung
des Diskurses rekonstruiert, der Anfang/Mitte der 1990er Jahre zu einem virulenten, emotional
und moralisch hochgradig besetzten Thema avancierte. Die Themenkarriere ist hochkomplex; sie hat
sich im Zusammenspiel von internationalen Verbreitungsprozessen, Aktivitäten diverser Akteure,
gefahrenfokussiertem Sektendiskurs und verschiedenen massenmedialen Berichterstattungswellen
konstituiert. Neben den Massenmedien verdankt der Gefahrendiskurs seine Verbreitung vor allem
dem Engagement einer zwar kleinen, aber durchaus wirkungsmächtigen Diskursgemeinschaft,
namentlich drei diskursiven Sprechergruppen:
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Ein "therapeutisches Aufdeckungsmilieu" mit Akteuren der (parteilich-feministischen) Missbrauchs-,
Trauma- und Multiplenbewegung, die sich insbesondere hinsichtlich der Realität und Normalität sexueller
Gewalt, der Identifikation und "Aufdeckung" individueller Missbrauchserfahrungen sowie mit
entsprechenden Traumatisierungs- und Dissoziationstheorien am Diskurs beteiligen.
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Ein "apologetisch-weltanschauliches Aufklärungsmilieu", bestehend aus Sektenexperten,
Weltanschauungsbeauftragten und politischen Akteuren, die Satanismus und die von ihm ausgehende
Gefahr hinsichtlich antichristlicher und krimineller Tendenzen thematisieren.
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Ein "investigativ-journalistisches Aufdeckungsmilieu", d.h. spezifische Vertreter der Medienöffentlichkeit wie Publizisten und Redakteure, die vermehrt gesellschaftliche Problemlagen aufdecken, dokumentieren
und skandalisieren.
Das aus diesen unterschiedlichen Problem- und Akteursfeldern entliehene Hintergrundwissen
konturiert auch die inhaltliche Beschaffenheit des Diskurses, wobei sich die vielen Einzelbeiträge
unterschiedlicher Provenienz jeweils drei zentralen Deutungsfiguren zuordnen lassen, mittels
derer die Problemwahrnehmung inhaltlich plausibel, theoretisch anschlussfähig und die
eingeklagten Handlungsanforderungen moralisch zwingend gemacht werden:
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Deutungsmuster ‚sexueller Missbrauch’ (erklärt individuellen Opferstatus und soziale
Realität sexueller Gewalt);
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einem Satanismusmythos (attribuiert Täter);
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einem verschwörungstheoretischen Denk- und Bewertungshorizont (vermeidet Kontingenz).
Zusätzlich wurden im Projekt die sprachlich-rhetorischen Mittel beleuchtet, die eingesetzt werden müssen,
um öffentliche Aufmerksamkeit und kulturelle Resonanz für den Gefahrendiskurs zu wecken. Es konnte detailliert
aufgezeigt werden, wie das Zusammenspiel zwischen Dramatisierungs- und Moralisierungsmechanismen,
Immunisierungsstrategien, Meinungs-, Zitier- und Sprecherkartellen sowie spezielle rhetorische Figuren
(Zirkelargumente, Alltagsmythen und Verschwörungstheorien) dazu benutzt wurden, die Realität einer
– objektiv nicht belegbaren – Problemdeutung diskursiv herzustellen.
Projektleiter: PD Dr.
Michael Schetsche
Bearbeiterin: Dr. Ina Schmied-Knittel
Publikationen:
Schmied-Knittel, I. Schetsche, M. (2011): Zwischen Erinnern und Vergessen.
Ritueller Missbrauch, Recovery-Paradigma und die Konstruktion von Wirklichkeit.
In: Soziologie des Vergessens. Theoretische Zugänge und empirische Forschungsfelder,
Hrsg. Oliver Dimbath, Peter Wehling, Konstanz: UVK, S. 339-359.
Schmied-Knittel, I. (2008): "Satanisch-ritueller Missbrauch". In: M. Schetsche:
Empirische Analyse sozialer Probleme. Wiesbaden: VS, S. 209-232.
Schmied-Knittel, I. & Schetsche, M. (2008):
Erbfeinde aus dem Innern – Satanisten in der christlichen Gesellschaft.
In: Exklusion in der Marktgesellschaft, Hrsg. Daniela Klimke, Wiesbaden:
VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 215-228.
Schmied-Knittel, I. & Schetsche, M. (2005).
Satanismus. 3 Thesen über ein
kriminalpolitisches Phantom. Posterpräsentation: Jahrestagung der Neuen
Kriminologischen Gesellschaft, Nürnberg. September 2005.