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Inszenierung des "Germanischen" im Neuheidentum der Gegenwart
Im Zentrum des - in Kooperation mit dem Institut für Soziologie der Universität
Freiburg durchgeführten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
finanzierten - Forschungsprojekts stand die religionsethnographische Untersuchung
so genannter germanisch-neuheidnischer Gruppen im deutschsprachigen Raum. Dabei
handelt es sich um alternativreligiöse Gemeinschaften, deren Mitglieder sich als
Anhänger einer (vermeintlich) vorchristlichen Religionsform Nord- und Mitteleuropas
verstehen. Ihr religiöses Selbstverständnis changiert zwischen dem Anspruch einer
möglichst authentischen Rekonstruktion archaischer Glaubenswelten und der Notwendigkeit,
alternativreligiöse Praktiken in einen modernisierten Alltag zu integrieren. Die sinnhafte
Verbindung subjektiver religiöser Erfahrung, kollektiven Wissens und gemeinschaftlicher
wie individueller Inszenierungsformen einer als "germanisch" deklarierten Religiosität
stand im Mittelpunkt der im Herbst 2009 abgeschlossenen Feldforschungen.
Das Forschungsdesign der Studie beruhte auf einer Kombination von teilnehmender
Beobachtung bei Gruppenritualen und ausführlichen Leitfadeninterviews mit langjährigen
Gruppenmitgliedern. Insgesamt wurden 26 Interviews mit 28 Personen aus 14 Gemeinschaften
dieser drei Strömungen sowie 6 teilnehmende Ritualbeobachtungen bei unterschiedlichen
Gruppen durchgeführt.
Auf der Vielzahl der empirischen Einzelbefunde können hier nur einige wenige
exemplarisch vorgestellt werden: Essentiell für die asatheistische Religion ist
– neben einem verbreiteten Animismus mit einem großen Spektrum akzeptierter nonhumaner
Wesenheiten (wie etwa Feen oder Zwerge) – vor allem die rituelle Verehrung von Ahnenwesen
und germanischen Gottheiten wie Odin, Thor, Frey und Freyja. Die Opferrituale (Blóts)
werden entweder individuell anlassgebunden oder aber gemeinschaftlich an bestimmten Jahrkreisfesten
Sonnenwenden und Äquinoktien) abgehalten. Der Ritualistik liegt die Vorstellung zu Grunde,
dass transzendente Wesenheiten als personale Repräsentation von Naturkräften oder aber
als Emanationen der eigenen Psyche (Persönlichkeitsanteile) im Alltagsritual kontaktierbar
sind und das Lebensglück positiv beeinflussen können. Der asatheistische Polytheismus ermöglicht
dabei eine positiv-sinnhafte Erklärung außergewöhnlicher Erfahrungen, die in rationalistischen
Weltkonzepten meist negiert werden (müssen).
Die Furcht vor sozialer Stigmatisierung am Arbeitsplatz bzw. innerhalb der Familien
führt zu vielfältigen Strategien der Geheimhaltung der eigenen religiösen Überzeugungen
und Praktiken, insbesondere bei den sozial angepassten Asatruar aus den Mittelschichten.
Die im Herbst 2009 mit der Dissertation von René Gründer abgeschlossene Feldstudie
liefert eine Vielzahl von Daten und Einordnungen, die zu einer differenzierteren
wissenschaftlichen und öffentlichen Wahrnehmung dieses alternativreligiösen Feldes
führen könnten.
Doktorand: René Gründer, M.A.
Betreuung am IGPP: Dr. Michael Schetsche
Publikationen:
Gründer, R. (2012): Riskiertes Verstehen. Lebensweltanalytische
Religionsethnografie alternativreligiöser Gemeinschaften am Beispiel der Asatrú.
in: Schroer, N./Hinnenkamp, V./Kreher, S./Poferl, A.:
Lebensweltanalytische Ethnographie. Essen: Oldib-Verlag.
Gründer, R. (2012): Runengymnastik. Die soziale Konstruktion
eines esoterischen 'Körper-Kults'. in: Gugutzer, R./Böttcher, M./Polchow, S. (Hg.): Körper, Sport und Religion. Soziologische Erkundungen. Wiesbaden: VS-Verlag.
Gründer, R. (2010): Religiöse Beheimatungsversuche: Germanischgläubiges Neuheidentum
als Ausdruck spiritueller Glokalisierung. in: Seifert, M. (Hg.): Zwischen Emotion
und Kalkül. 'Heimat' als Argument im Prozess der Moderne (Schriften zur sächsischen
Geschichte und Volkskunde Bd. 35). Leipzig: Universitätsverlag, S.219-230.
Gründer, R. (2010): Blutgnostische Heilslehren im alternativreligiösen Spektrum der
Gegenwart. In: Groß, D./Knust, C. (Hg.): Blut – Die Kraft des ganz besonderen
Saftes in Medizin, Literatur, Geschichte und Kultur. Kassel: University Press. S.229-252.
Gründer, R. (2010): Moderner Stammesgesang. "Germanisches" in der Musik religiöser
Neuheiden und der Jugendkultur des Neofolk. in: Seifert, M., Bröcker, M. (Hg.):
Aspekte des Religiösen in popularen Musikkulturen. Internationale Tagung der Kommission
zur Erforschung musikalischer Volkskulturen und des ISGV in Dresden, 8. bis 11. Oktober 2008
(Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde Bd.19). Dresden:
Thelem Verlag, S.213-233.
Gründer, R. (2010):
Blótgemeinschaften. Eine Religionsethnografie des
'germanischen Neuheidentums',
Grenzüberschreitungen Bd. 9. Würzburg: Ergon.
[zgl. Univ. Diss. Freiburg 2009]
Gründer, R. (2009): Asatheismus. Eine feldforschungsbasierte Religionsethnographie
germanisch-neuheidnischer Religionsentwürfe im deutschsprachigen Raum. Diss. Universität
Freiburg, Philosophische Fakultät.
Gründer, R. (2009): Runengeheimnisse. Zur Rezeption esoterischen Runen-Wissens
im germanischen Neuheidentum Deutschlands. In: Aries 9, N2: 137-174.
Gründer, R. (2009): Traditionen des germanischen Heidentums in der Moderne.
In: Gnostika 42, 35-46.
Gründer, R. (2009): Asatru in Deutschland – Strömungen einer alternativreligiösen
Bewegung. In: Ders., Schetsche, M.; Schmied-Knittel, I. (Hg.): Der andere Glaube.
Europäische Alternativreligionen zwischen heidnischer Spiritualität und christlicher Leitkultur. Würzburg: Ergon, 77-99.
Gründer, R.; Schetsche, M.; Schmied-Knittel, I. (2009) (Hg.):
Der andere Glaube. Europäische Alternativreligionen zwischen heidnischer
Spiritualität und christlicher Leitkultur. Würzburg: Ergon.
Gründer, R.; Schetsche, M.; Schmied-Knittel, I. (2009): Der andere
Glaube – soziologische Dimensionen europäischer Alternativreligionen.
In: Dies. (Hg.): Der andere Glaube. Europäische Alternativreligionen
zwischen heidnischer Spiritualität und christlicher Leitkultur. Würzburg:
Ergon, 167-194.
Gründer, R. (2008): Germanisches (Neu-)Heidentum in Deutschland. Entstehung,
Struktur und Symbolsystem eines alternativreligiösen Feldes. Berlin: Logos.