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Jüdische Hellseher und Paragnosten im 19.
und 20. Jahrhundert: Archivische Erschließung und
biographische Studien
In der Historiographie zur Parapsychologie hat bisher der
Umstand, dass eine Reihe von Personen, die zeitgenössisch
als "Hellseher", "Paragnosten" oder
"Telepathen" Bekanntheit erlangt haben, Juden waren,
kaum oder gar keine Beachtung gefunden. Vorliegende Forschungen zu
parapsychologischen Bezugspunkten in der jüdischen
Kulturgeschichte befassen sich entweder mit biblischen oder aber
mit rabbinisch-talmudistischen Traditionen, während für
die Neuzeit oder gar für die Zeitgeschichte bislang nur
wenig bekannt ist. Deshalb sollen in einem Forschungsprojekt
Persönlichkeiten jüdischer Herkunft aus der Geschichte
der Parapsychologie im Mittelpunkt stehen.
Neben einer schon prominenten Gestalt wie Hermann Steinschneider
alias "Hanussen" (1889-1934) sollen vorrangig bisher noch wenig
bekannte Lebensläufe wiederentdeckt und untersucht werden.
Im Mittelpunkt stehen Biographien von Jüdinnen und Juden,
deren außergewöhnliche Fähigkeiten das Interesse
der wissenschaftlichen Parapsychologie geweckt haben und Anlass
zu Diskussionen gegeben haben. Zumindest mit erfasst wird der
Bereich der jüdischen Trick- und Illusionskunst. Das
Forschungsprojekt wird zum einen archivarische Arbeiten umfassen,
wie etwa die systematische Erschließung der zahlreichen
Unterlagen zum Fall "Hanussen" im Teilnachlass des Juristen
Albert Hellwig im IGPP-Archiv. Ein zweiter Aufgabenbereich
besteht in der Erarbeitung biographischer Studien, etwa zu dem
amerikanisch-polnischen Hellseher Bert Reese (1841-1926), zu dem aus
Süddeutschland stammenden Ludwig Kahn (1873-um 1966),
zu Ludwig Aub (1862-1926) aus München oder zu dem Graphologen
und "Psychometriker" Raphael Schermann (1879-um 1945) aus Wien.
Wenn möglich, d.h. wenn durch Quellen ausreichend belegbar,
werden weitere jüdische Hellseher oder Paragnosten
berücksichtigt. Dafür sind neben der Auswertung der
Bestände im IGPP-Archiv auch Recherchen in anderen Archiven
notwendig.
Es soll untersucht werden, ob und inwieweit jüdische
Sozialisationsformen und Traditionslinien für die
Tätigkeit und Wirkung dieser Personen von Relevanz für
ihre jeweilige Außen- und Eigenwahrnehmung waren bzw. in
welcher Weise sich historische Verläufe und Ereignisse sowie
gegebenenfalls antijüdische Ressentiments auf ihre
Biographien auswirkten. Die komparatistische Perspektive fragt
nach möglichen Gemeinsamkeiten sowie Unterschieden in den
Lebensläufen jüdischer Hellseher und Paragnosten. In
einem erweiterten Ansatz kann der Blick darauf gerichtet werden,
welche Bedeutung der oft nicht berücksichtigten
Gesamtbiographie einer solchen Persönlichkeit für deren
Erfolg oder Misserfolg, für deren Anerkennung oder Ablehnung
im Gesamtrahmen der Parapsychologie zukommt. Unter diesen
Gesichtspunkten ist das Forschungsprojekt an einer durch das
Projekt selbst noch zu klärenden Schnittstelle zwischen der
jüdischen Kultur- bzw. Sozialgeschichte und der Geschichte
der Parapsychologie verortet.
Veröffentlichungen
Uwe Schellinger: Faszinosum, Filou und
Forschungsobjekt: Das erstaunliche Leben des Hellsehers Ludwig
Kahn (1873-ca.1966), in: Die Ortenau. Zeitschrift des Historischen
Vereins für Mittelbaden 82 (2000) 429-468.
Uwe Schellinger: Ludwig Kahn, Max Schottelius
und die Folgen: Eine Fallstudie zur Erforschung der "außersinnlichen
Wahrnehmung" am Ende des Kaiserreichs, in: Zeitschrift für
Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie 44/45/46 (2002/2003/2004)
195-217.
Uwe Schellinger: Joodse helderzienden (Übersetzung:
Irma Verhoeven), in: Tijdschrift voor Parapsychologie 74 (2007)
Nr. 1 (373), 16.
Uwe Schellinger: Der Fall Kahn: Die erste universitäre
Debatte über "Hellsehen" und "Telepathie" am Ende des
Kaiserreichs, in: Barbara Wolf-Braun (Hg.): Medizin, Okkultismus
und Parapsychologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Wetzlar
2009 100-122.
Uwe Schellinger: "Ein menschliches Rätsel": Die Freiburger Experimente zum Hellsehen von Max Schottelius mit "Professor "Alkadar", in: Uwe Schellinger (Hg.): locus occultus. Heilender, populärer und wissenschaftlicher Okkultismus in Freiburg 1900 bis 1945, Heidelberg u.a. 2017, 169-186.
Kontakt
Uwe Schellinger, M.A.
0761/20721-61