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Hellseher, Medien und Wunderheiler: Wirken und Wahrnehmung
von Personen mit "paranormalen" Fähigkeiten im regionalen Kontext
(Beispiel: Mittel- und Südbaden im 19. und 20. Jahrhundert)
Die "Neue Kulturgeschichte" der neunziger Jahre hat den Blick
der Geschichtswissenschaft erheblich geweitet und in diesem Zuge viele
zuvor marginal erscheinende Untersuchungsgegenstände ins Blickfeld gerückt.
Als ein besonderer Teilaspekt dieser Perspektivenerweiterung wurde angeregt,
in verstärktem Maße kulturelle, soziale oder wissenschaftliche Grenzgänger,
oder um es mit dem Ethnologen Werner F. Bonin auszudrücken, "Wunderlinge,
Sonderlinge, Käuze" und ihre "Funktion in der Gemeinschaft" in die
wissenschaftliche Betrachtung mit einzubeziehen. Zu diesen (vermeintlichen)
Exoten zählen insbesondere die Protagonisten der neuerdings von der
Geschichtwissenschaft ausgewiesenen "verzauberten Moderne" (Freytag/Sawicki).
Es sind Personen und Gruppen am (vermeintlichen) Rand der Gesellschaft,
die der Sozialhistoriker Ulrich Linse vor über einem Jahrzehnt in seiner
Pionierstudie Geisterseher und Wunderwirker erstmals ausführlicher
für das 19. und 20. Jahrhundert beschrieben hat: Hellseher, Magier, Medien,
Somnambule, Spiritisten, Visionäre, Wunderheiler. Das heißt: Personen mit
selbst- oder fremdzugeschriebenen "paranormalen" Fähigkeiten oder Vertreter
des "okkulten Untergrund des Abendlandes" (Webb). Die Geschichtswissenschaft
in Deutschland entdeckt diese oft nur schwer einzuordnenden Lebensläufe und
die mit ihnen verbundenen Lebenswelten einigermaßen zögerlich, wenn auch
inzwischen mit ansteigendem Interesse. In dem für das Projekt ausgewählten
Kontext der mittelbadischen oder Ortenauer Regionalgeschichte sind inzwischen
eine Reihe solcher Personen beschrieben und ihre Lebensläufe rekonstruiert
worden, allerdings in unterschiedlich ausführlicher und fundierter Weise.
Festgestellt wurde für den betrachteten Zeitraum u.a. ein vermehrtes Auftreten
von Heiler-Persönlichkeiten. Zukünftig sollen weitere, bislang noch unbekannt
gebliebene Personen aus dem Bereich der unorthodoxen Heilmethoden sowie aus
anderen als "paranormal" beurteilten Kontexten ausfindig gemacht werden.
Die Beschäftigung mit den Lebensgeschichten sowie der jeweiligen konkreten
Praxis solcher Grenzgänger und Sonderlinge kann im besten Fall Erkenntnisse
über Eingliederungs- oder Marginalisierungsprozesse sowie Mentalitäten oder
Positionierungen der umgebenden Gesellschaft liefern. Dabei bietet es sich an,
diese Strukturen im Rahmen einer konzentrierten regionalgeschichtlichen
Erfassung zu betrachten. Worin bestanden die tatsächlichen Fähigkeiten, aber
auch die sozialen Funktionen dieser Menschen? Wie sah konkret ihre
Handlungspraxis aus, welche Methoden wandten sie an? Waren sie tatsächlich
randständig oder wurde ihr Wirken vielleicht sogar als selbstverständlicher
oder notwendiger Bestandteil der Alltagskultur angesehen? Wie wurde
jemand zum "Hellseher" oder zum "Wunderheiler"? Waren es lebenslange
oder nur kurzfristige "Karrieren"? Wie reagierte das lokale Umfeld,
wie die Behörden, die Wissenschaft? Es besteht deshalb das Interesse,
weitere Biographien aus der Region Mittelbaden/Ortenau in Erfahrung zu
bringen, zu dokumentieren und vergleichend zu analysieren. Zu vermuten ist,
dass sich in den Archiven und Sammlungen auf der kommunalen und möglicherweise
auch der kirchlichen Ebene weiteres aussagekräftiges Material zum gestellten
Thema finden lässt. Vorhandene, aber meist wenig beachtete lokal- oder
regionalgeschichtliche Kenntnisse kö werden.
Veröffentlichungen:
Uwe Schellinger: Faszinosum, Filou und Forschungsobjekt: Das erstaunliche
Leben des Hellsehers Ludwig Kahn (1873-ca. 1966). In: Die Ortenau 82
(2002) 429-468.
Uwe Schellinger, Gerhard Mayer: Webers Hände: Wirken und Wirkungen
des "Wunderheilers von Schutterwald". In: Die Ortenau 86 (2006) 11-42.
Uwe Schellinger: Hellseher, Medien und Wunderheiler: Wirken und
Wahrnehmung von Personen mit "paranormalen" Fähigkeiten im regionalen
Kontext (Beispiel: Mittelbaden und Ortenau im 19. und 20. Jahrhundert).
Ein Forschungsaufruf des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie
und Psychohygiene e.V. Freiburg (IGPP). In: Die Ortenau. Zeitschrift des
Historischen Vereins für Mittelbaden 87 (2007), 536-541.
Uwe Schellinger: Geburtsstunde eines Sterndeuters. Der
Astrologe und Okkultist Karl Brandler-Pracht (1864-1939) in
seiner Ortenauer Zeit. In: Geroldsecker Land. Jahrbuch
einer Landschaft 51 (2009) 92-105.
Uwe Schellinger: Rezension zu: Dirk Wacker: Daniel Lacker. Aus
dem Leben und Wirken des Heilkundigen aus Memprechtshofen (Aus der
Stadt Rheinau - Mitteilungen des Historischen Vereins 2011), Rheinau
2011, in: Die Ortenau. Zeitschrift des Historischen Vereins ür
Mittelbaden 92 (2012) 470-471.
Uwe Schellinger: Scharlatan und Wohltäter: Der "Wunderheiler von
Schutterwald" im Fokus von Öffentlichkeit, Justiz und
Wissenschaft. In: Mirko Uhlig, Michael Simon & Johanne Lefeldt (Hrsg.):
Sinnentwürfe in prekären Lebenslagen. Interdisziplinäre
Blicke auf heterodoxe Phänomene des Heilens und ihre Funktionen
im Alltag (Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde 9),
Münster-New York: Waxmann 2015, 155-180.
Uwe Schellinger: Öffentliche Hypnosevorführungen im Nationalsozialismus:
Das Beispiel Baden, in: Hypnose. Zeitschrift für Hypnose und Hypnotherapie
11 (2016) H.1+2, 71-97.
Uwe Schellinger: "Ein menschliches Rätsel": Die Freiburger Experimente zum Hellsehen von Max Schottelius mit "Professor" Alkadar", in: Uwe Schellinger (Hg.): locus occultus. Heilender, populärer und wissenschaftlicher Okkultismus in Freiburg 1900 bis 1945, Heidelberg u.a. 2017, 169-186.
Uwe Schellinger: Integrierter Außenseiter: Bernhard Bischler (1884-1965), der „Seher vom Kinzigtal“, in: Andreas Morgenstern/Ute Scherb (Hg.): Leben am Rand?! Geschichten aus Südbaden (Lebenswelten im ländlichen Raum – Historische Erkundungen in Mittel- und Südbaden), Heidelberg u.a.: Verlag Regionalkultur, 2020, 75-100.
Kontakt:
Uwe Schellinger, M.A.
0761/20721-61